Direkt zum Inhalt

Die Logik der Gefühle: Die emotionale Verarbeitung unerwünschter Veränderungen


 


"Die Explosion hatte mich mit einem niederschmetternden Ruck zu Tode erstarrt.
Aber solch ein Ereignis ist nicht nur schlecht. Es erinnert Dich daran,
dass das Leben kurz ist, Dinge sich ändern, und Du sterben wirst.
Während ich in jenem Oktober im dunklen Wohnzimmer sitze, dämmert mir,
dass ich jetzt das Ruder herum reissen muss oder unglücklich sterben werde."

David Gelernter, Drawing Life [1]


Nur manchmal, während wir so schmerzhaft reifen,
dass wir an diesem beinah sterben, dann:
formt sich aus allem, was wir nicht begreifen,
ein Angesicht und schaut uns strahlend an. 

Rainer Maria Rilke
 

 



 

 



 

Phasen der Veränderung 
 

Führungskräfte sind in Zeiten des Wandels vor die Aufgabe gestellt, Veränderungen, die wesentliche Konsequenzen für sie selbst und ihre Mitarbeitenden haben, entweder selbst zu initiieren oder mitzugestalten und dafür zu sorgen, dass die initiierten Veränderungen auch realisiert werden.
Wesentliche Veränderungen sind solche, die den mühselig erreichten Status Quo in Frage stellen, und je nach Tragweite der Konsequenzen eine hohe Anforderung an die Veränderungsbereitschaft der Betroffenen stellen.
Dazu gehören beispielsweise:
 

  • andere Aufgaben mit neuen Herausforderungen, nach denen nicht gefragt wurde
  • Notwendigkeit des Erwerbs neuer Kompetenzen, für die sich der Betroffene nicht interessiert
  • Beschneidung von Entscheidungskompetenzen
  • Verlust des Arbeitsplatzes

 



Wird die Veränderung eher als Bedrohung denn als willkommener Wandel erlebt, durchläuft der Betroffene sieben typische Phasen der emotionalen Verarbeitung solcher Veränderungen.
Elisabeth Kübler-Ross hat in der Arbeit mit Menschen, die die größte Veränderung in ihrem Leben auf sich zukommen sahen, nämlich dem eigenen Tod, ein Modell entwickelt, das jedoch im Prinzip für alle Veränderungen gilt, in denen wir gezwungenen sind, uns von etwas Altem / Gewohnten / Liebgewonnenen zu verabschieden und uns auf etwas (unberechenbar) Neues einzulassen.

Damit Veränderung nicht nur auf der Hochglanzfolie gedruckt, sondern auch mit den betroffenen Menschen umgesetzt und gelebt wird, ist es wichtig, diese verschiedenen Phasen der emotionalen Verarbeitung zu erkennen, zu respektieren und angemessen zu reagieren. Ansonsten läuft man Gefahr, unnötig Konflikte oder ein "Steckenbleiben" in einer der Phasen zu provozieren.

Im folgenden sind die sieben Phasen und das empfohlene Verhalten in Stichworten erläutert (auf Bild klicken, um es zu vergrössern):

 





Phase 1: Vorahnung und Sorge 

Die Entscheidung, dass etwas geschieht (z. B. Umstrukturierung), ist vielleicht bereits gefallen - jedoch nicht veröffentlicht. Die Mitarbeitenden sind aber nicht taub. Im Gegenteil. Der "Flurfunk" sorgt für die Verbreitung von Gerüchten und halben Informationen. Erfahrungen aus der Vergangenheit, Informationen und Spekulationen in der Presse sorgen dafür, dass schon vor der Veröffentlichung der Entscheidung die Veränderung geahnt wird.
Die emotionale Reaktion in dieser Phase ist Sorge und Verunsicherung - eventuell so stark, dass die Produktivität darunter leidet.
 

Empfehlung für das Verhalten:
So früh wie nur irgend möglich und vor allem schneller als die Presse die Mitarbeitenden und vollständig über die anstehenden Veränderungen informieren, und zwar nicht nur schriftlich sondern sich auch persönlich der Resonanz dieser Veröffentlichung bei den Mitarbeitenden stellen.


Phase 2: Schock, Schreck, Unglaube 

Wenn wir mit den unliebsamen Fakten konfrontiert werden, ist zunächst mal die erste Reaktion je nach Schwere der Veränderungen ein Schock. Wir halten inne mit dem Gewohnten, sind zu keiner wohlüberlegten Reaktion fähig, müssen das Gehörte erst einmal verarbeiten, und wirklich begreifen, dass das Befürchtete eingetreten, der Wandel definitiv ist.


Empfehlung für das Verhalten:
Zeit für die Verarbeitung geben, zu den Fakten stehen, die Schreck-Reaktion nicht durch gutgemeintes Abwiegeln überspielen oder zum nächsten Tagesordnungspunkt übergehen. Dies würde bei den Betroffenen eher das Gefühl erzeugen, in ihren Befürchtungen nicht ernstgenommen zu werden.


Phase 3: Abwehr, Ärger, Aggression 

Wenn die Fakten allmählich nicht nur vom Verstand begriffen sind und die erste Schreckreaktion vorüber ist, folgt meist eine mehr oder weniger ausgeprägte Reaktion: Wir werden ärgerlich, ja gar aggressiv, weil das Neue als Bedrohung des mühselig hergestellten Status quo wahrgenommen wird. Eine häufige Reaktion ist Abwehr. Es wird versucht, gegen die Veränderung zu argumentieren, die Sinnhaftigkeit in Frage zu stellen, die Notwendigkeit einer Veränderung oder deren Ausmaß und Konsequenzen zu leugnen.


Empfehlung für das Verhalten:
Ärger und Aggression aushalten, nach dem Motto: lieber die Aggression wird mir jetzt offen gezeigt, als nachher "hinter den Kulissen" ausagiert. Auch hier gilt: Zu den Fakten stehen. Den Ärger nicht persönlich nehmen, aber natürlich Grenzen des Ausdrucks aufzeigen, wo erforderlich. Es ist ein natürliches Phänomen, dass der Überbringer schlechter Nachrichten zum Blitzableiter für die ausgelöste Aggression wird:
Bekanntlich wurde schon im Altertum dem Überbringer schlechter Nachrichten der Kopf abgeschlagen, obwohl er nichts für das Unheil konnte, von dem er berichtete.


Phase 4: Resignation, Frustration, evt. auch Depression 

Irgendwann wird deutlich: Es gibt kein Zurück, das Alte ist unwiederbringlich verloren. Das Neue noch wenig greifbar. Meist fällt zunächst die Energie, die noch in eine verstärkte Abwehr der Veränderung investiert wurde, in sich zusammen. Die Betroffenen fallen in ein Motivationsloch. Es ist keine Energie mehr für die Abwehr vorhanden, und Energie für die Bewältigung des Neuen kann noch nicht mobilisiert werden.


Empfehlung für das Verhalten:
Akzeptieren, dass dem anderen gerade nicht zum Feiern zumute ist, und dass er noch seine Zeit braucht, bevor er "zu neuen Taten schreitet". Akzeptieren heißt wahrnehmen und nicht Recht geben! Das heißt: respektieren, dass der Betroffene in einem Motivationsloch steckt, sich aber nicht hineinziehen lassen. Im Kontakt bleiben. Weiterhin zu den Fakten stehen, aber unrealistischen Befürchtungen und Unterstellungen im wertschätzenden Dialog eigene Einschätzungen und Wahrnehmungen zur Seite stellen.

Achtung: Aufmunterungsversuche sind zwar ein natürlicher Reflex, jedoch selten hilfreich - im Gegenteil: sie werden eher als Beweis gesehen, dass der andere noch nicht begriffen hat, wie schlecht es einem wirklich geht.

Wichtig: Als Führungskraft können Sie Verhalten einfordern, nicht jedoch Gefühle. Mit anderen Worten: Sie können erwarten, dass jemand seine Arbeit erledigt, aber in welcher Stimmung er es tut, entzieht sich Ihrer Kontrolle. Lassen Sie Ihren Mitarbeitenden, die gerade eine schlechte Nachricht zu verdauen haben, ihre Gefühle.


Phase 5: Abschied vom Alten, Wehmut, Trauer 

Trauer ist seelischer Wundschmerz. Trauer ist ein gutes Zeichen. Denn sie ist ein Zeichen für den notwendigen Abschied vom Alten, der jetzt stattfindet. Menschen trauern unterschiedlich. Die einen tun es mit Tränen, die anderen werden nur still, andere erzählen wehmütig, wie es früher war.
 

Empfehlung für das Verhalten:
Es gibt nichts zu tun, außer das Tal der Tränen zu respektieren und dafür zu sorgen, dass das Notwendige trotz der Trauer getan wird. Mitunter können angemessene Rituale die Verarbeitung der Trauer und das Abschiednehmen unterstützen. Angemessen heißt, dass die Betroffenen dieses Ritual selbst als angemessen erachten und miteinander entwickeln und dann auch durchführen.
Beispiel: eine Filiale wird geschlossen. Die Mitarbeitenden überlegen sich, wie sie diesen letzten Tag gemeinsam in der Filiale gestalten wollen. Das Ausschalten des Lichts und das letztmalige Abschließen der Filiale bekommt hierdurch auch symbolischen Gehalt und ermöglicht auch das emotionale Abschiednehmen.


Phase 6: Akzeptieren der Umstände, Öffnung und Bereitschaft für neue Lösungen, Neugier 

Erst jetzt ist die Bereitschaft da, sich mit den gegebenen Umständen abzufinden. Die Verliebtheit in die Vergangenheit lässt nach, es wird nicht mehr an dem unwiederbringlich Verlorenen festgeklammert. Die Suche nach verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs mit der neuen Situation beginnt. Es kann sogar Enthusiasmus und Lust am Erweitern der eigenen Kompetenzen entstehen.
 

Empfehlung für das Verhalten:
Jetzt ggf. Hilfe bei der Lösungsfindung anbieten. Aufkeimende Neugier unterstützen und fördern.


Phase 7: Wohlbefinden und Selbstvertrauen 

Nun endlich ist das Neue, das als schlechte Nachricht oder gar als erschütterndes Ereignis erlebt wurde, wirklich verarbeitet und integriert. Neue Fähigkeiten sind erworben, die Betroffenen identifizieren sich mit der neuen Rolle und den damit verbundenen neuen Aufgaben. Das Verbesserungspotenzial, das die Veränderung in sich birgt, kann sich erst jetzt voll entfalten und somit die Leistung des Systems über das Niveau des alten Status Quo heben.
 

Empfehlung für das Verhalten:
Erfolge feiern, Anstrengungen und Entwicklung würdigen.

Eine optimistische Interpretation dieses Modells ist, dass irgendwann jeder wieder bei der letzten Stufe "Wohlbefinden und Neugier, Aufbruch zu neuen Ufern" landet. Dem ist natürlich nicht so. Menschen können je nach situativen Umständen, Schwere des Schicksals-Schlags und ihrer Persönlichkeitsstruktur in einer der Phasen hängen bleiben. Es gibt nicht wenige Fälle, in denen Menschen in der Aggression hängen geblieben sind. Solche Menschen sind dann anfällig für Verbitterung und Zynismus. Oder sie bleiben in der Depression hängen und verfallen einer Sucht wie z. B. Alkoholismus. Im Kontakt merkt man das beispielsweise daran, dass man sich als Klagemauer missbraucht fühlt.

 

Aus dem dargestellten Modell ergeben sich Empfehlungen für den Umgang mit Emotionen in Veränderungsprozessen:
 

  • Respektieren Sie Gefühle und stellen Sie sich der emotionalen Resonanz bei den Betroffenen auf unliebsame Entscheidungen.
  • Fordern Sie - sofern notwendig - Verhalten ein, nicht jedoch Motivation, Identifikation und Gefühle. Sie können sich Begeisterung bei Ihren Mitarbeitenden natürlich wünschen und dies auch äußern, aber anordnen lässt sich Begeisterung nicht. Bestenfalls bekommen Sie Lippenbekenntnisse. Motivation und Identifikation ist das Ergebnis eines erfolgreich verlaufenen Veränderungsprozesses und letztendlich eine individuelle Leistung des Mitarbeitenden, der durch die persönliche Auseinandersetzung mit den Zielen des Veränderungsprozesses und vor allem durch aktive Mitgestaltung zu neuer Motivation und Identifikation findet. Wir als Führungskräfte können diesen Prozess der Auseinandersetzung mit dem Neuen durch geeignete Maßnahmen fördern (z. B. Workshop, Gespräch, runder Tisch, Mitwirkung im Veränderungsprozess etc...).
  • Seien Sie sich aber auch ihrer persönlichen Grenzen und den Grenzen ihrer Rolle bewusst und binden Sie nötigenfalls andere mit ein (z.B. Personalabteilung, Sozialdienst des Unternehmens) wenn Sie den Eindruck haben, eine oder einer Ihrer Mitarbeitenden benötigt in seiner emotionalen Verarbeitung Hilfe, die Sie ihm nicht geben können oder wollen.
  • Auch wenn häufig Emotionen als ein Problem betrachtet werden, dass es zu vermeiden gilt ( z. B. "wir wollen hier doch nicht emotional werden!") - wir dürfen eines nicht vergessen: In dem Begriff Emotion steckt das Wort "Motion" und das bedeutet Bewegung. Es geht also um das was die Menschen bewegt. Und darum geht es doch auch bei der Motivation. Motivation ohne Emotion ist nicht denkbar. Wir können nur dann motivierte Menschen erwarten, wenn wir sie auch ernstnehmen und dort abholen, wo sie bewegt sind, auch wenn uns persönlich ihre anfänglichen Emotionen auf eine unliebsame Entscheidung hin zunächst nicht ins Konzept passen mögen.

 


Im folgenden ist die Grafik mit den Empfehlungen für das Verhalten ergänzt (auf Bild klicken, um es zu vergrössern):

 




Es gibt wie bereits erwähnt Situationen, in denen die emotionale Verarbeitung ins Stocken gerät und es zu einer Chronifizierung einer emotionalen Phase kommt, z.B.:

  • chronische Verleugnung der schockierenden Fakten
  • chronische Aggression, die in Verbitterung umschlägt
  • chronische Depression, die zur Flucht in Suchtverhalten verführt

 

Ausserdem gibt es auch das Phänomen der gelernten Hilflosigkeit: der Glaube an die Möglichkeiten, sein Schicksal zu gestalten ist verloren gegangen. Mitunter zeigt sich dies dadurch, dass die Phase der Aggression, die ja ein Versuch darstellt, das Unabwendbare abzuwenden, übersprungen wird.

Die folgende Grafik ist mit diesen Phänomenen ergänzt (auf Bild klicken, um es zu vergrössern):

 



 

Nicht nur in der Rolle als Führungskraft, sondern auch als Mitarbeitende oder im Privatleben müssen wir mitunter schlechte Nachrichten überbringen - auch solche, die wir selbst verantworten, wie zum Beispiel eine Entscheidung, die wir getroffen haben und dem Anderen überhaupt nicht behagt. Worauf hierbei zu achten ist, habe ich hier erläutert:
Die Kunst, schlechte Nachrichten zu überbringen - und zu überleben .

 

Da wesentliche Veränderungen immer auch das Potential haben, unsere individuelle Balance zwischen Stabilität und Instabilität zu gefährden, empfehle ich Ihnen die Lektüre des folgenden Kapitels:
Fünf Quellen der (In-)Stabilität (nur für registrierte Kunden)

Für die zeitversetzte emotionale Verarbeitung in hierarchischen Systemen siehe: Zeitversetzte emotionale Verarbeitung unerwünschter Veränderungen in hierarchischen Systemen (nur für registrierte Kunden)

 


 

Literatur 
 

  • Compi, L.: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Sammlung Vandenhoeck, 1997
  • Damasio, A.R.: Descartes Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. 2004.
  • Kübler-Ross,E.: On Death and Dying (deutsch: "Interviews mit Sterbenden"), 1969
  • Morrell, M.; Capparell, S.: Shackletons Führungskunst - Was Manager von dem großen Polarforscher lernen können. Rohwolt Taschenbuch Verlag, 9. Auflage, 2011



 

 


 

Weblinks 
 

 

 

 

 Fussnoten 


 

  1. Übersetzung des Zitats ins Deutsche: Ingo Heyn. Original: "The explosion stopped me dead with a staggering jolt. But such an event is not all bad. It makes you face the fact that life is short, things change, you die. As I sit in the dark livingroom that October, it finally dawns on me that I have to turn the vessel around right now or die unhappy." (page 84) David Gelernter, Informatik-Professor an der Yale-University, ist einer der renommiertesten Informatiker weltweit. Er wurde 1993 durch eine Paketbombe des sogenannten "Unabomber" schwer verletzt. In seinem Buch "Drawing Life" berichtet er beeindruckend, wie er dieses Erlebnis und die lebenslangen Folgen in Form von Behinderungen bewältigt hat. Das Buch ist bisher leider nicht ins Deutsche übersetzt worden.


 


Hyperlink-Fussnoten:
 
Link 1: https://www.nytimes.com/2019/02/14/smarter-living/what-to-say-and-what-not-to-say-to-someone-whos-grieving.html