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Wozu Persönlichkeitsentwicklung?


"Gott wird mich nicht fragen, warum ich nicht Moses war,
Er wird mich fragen, warum ich nicht Susya war"

Rabbi Susya

"Sei du selbst! Alle anderen sind bereits vergeben."

Oscar Wilde

 


 

Ich war noch keine zwanzig Jahre alt, das Leben lag vor mir, die langersehnte Freiheit nach Beendigung der Schulzeit endlich greifbar nah. Da wurde ich Vater - ganz unerwartet. Immerhin, mir war eine Tochter geboren. Ein Geschenk des Himmels, wie ich später feststellte, aber zunächst wurde mir nur erschreckend bewusst: meine Pläne waren durchkreuzt. Meine Situation hatte sich, ohne dass ich drum gebeten hatte, mit unabsehbaren Folgen für mein weiteres Leben verändert.

 

Tiefgreifende Veränderungen bewegen uns, vor allem wenn es folgenreiche Veränderungen sind, nach denen wir nicht gefragt haben, die unseren gewohnten Status Quo in Frage stellen und das hart Erarbeitete gefährden. Erschütternde Veränderungen - und da gibt es ganz andere als die Geburt eines Kindes - erinnern uns wie ein Erdbeben daran, dass unter dem vermeintlich festen Grund Kräfte walten, die sich unserer Kontrolle entziehen. Wenn das Ausmass dieser Veränderungen unseren Durst nach Abenteuer übersteigt, sind wir konfrontiert mit unserer Angst vor Aufl ösung im Chaos. Wenn kein Stein auf dem anderen bleibt " wo bleibe dann ich? Gibt es mich dann überhaupt noch?

 

Aber nicht nur im Chaos droht allem Leben Ungemach, denn das Chaos (griechisch "wirre Urmasse" bei Platon und Ovid) ist nur einer von zwei Polen, der mit seinem Gegenpart, dem Pol der Erstarrung, ein Spannungsfeld bildet. Irgendwo zwischen diesen Polen gibt es einen Bereich der flexiblen Ordnung, in dem alles Leben stattfindet. Dort halten sich die Kräfte des Bewahrens und der Veränderung die Waage und erlauben sich selbst organisierenden Systemen das flexible Reagieren auf neue Umwelteinflüsse, ohne zum identitätslosen Spielball derselben zu werden und sich aufzulösen. Irgendwo zwischen diesen beiden Polen gibt es also einen - je nach Konstitution und Geschmack - angenehmen Bereich, in dem alles im grünen Bereich ist: Die Zone der flexiblen Ordnung. In der Sprache der modernen Chaosforschung können wir sagen:


 

Jedes lebende System (Organismen, Gruppen, Unternehmen, ...) ist ein gelungener Balance-Akt zwischen Chaos und Erstarrung.




 

 



 

Der Pol "Chaos, Auflösung" ist in den gegenwärtigen Zeiten des tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels wesentlich mehr in die Aufmerksamkeit vieler Menschen gerückt. Das Leben legt uns Fragen nahe " zum Beispiel: Nach welchen Grundsätzen und Werten willst du in "bewegter See" Entscheidungen treffen? Wo willst du dich anpassen und wo gilt es, deinen bisherigen Weg aufzugeben und eine neue Richtung einzuschlagen? Womit identifi zierst du dich auch weiterhin und was musst du loslassen?

 

Dieser Wandel stellt aber nicht nur Fragen, er rüttelt - sofern er stark genug ist - auch an unseren emotionalen Grundfesten und fordert uns heraus. Deshalb wird gerade in Zeiten starker Veränderungen deutlich, wo wir in unserer ganz persönlichen Entwicklung stehen: Je mehr wir schon dem Unbekannten, dem Nicht-Planbaren oder gar dem Bodenlosen begegnet sind und wir diese Begegnung für eine Weitung unseres Bewusstseins und eine Erweiterung unserer Fähigkeiten genutzt haben, desto mehr können wir uns dem Pol "Chaos / Aufl ösung" nähern und bleiben doch noch gestaltungsfähig. Dies gelingt uns, weil wir uns nicht in Panik verlieren, sondern noch unsere instinktiven Flucht- und Kampfreflexe zügeln sowie präsent im Wissen unserer Fähigkeiten bleiben. Als Voraussetzung hierfür wird häufig sofort an die starke Persönlichkeit gedacht. Zurecht - aber nicht selten mit einem irreführenden Verständnis von Stärke. Irreführend ist der Glaube, stark zu sein, wenn es mir gelingt, Ereignisse sowie die damit verbundenen eigenen Gefühle und die anderer Menschen nicht an mich heranzulassen. Meine Erfahrung ist, dass mir wesentlich mehr Energie zur Verfügung steht, wenn ich statt dessen wage, gerade dies zu tun: Nicht auszublenden, nicht die Augen zu verschliessen, sondern genau wahrzunehmen, zu fühlen und mitzufühlen. Mir scheint, es ist wie im Judo: Die Energie, die in der Wucht der Veränderungen steckt, die mir gerade widerfahren, kann für die konstruktive Bewältigung dieser Veränderungen genutzt werden - aber nur, wenn ich die Wucht erst mal an mich heranlasse, sprich, bereit bin, sie in ihren Ausmassen wirklich wahrzunehmen anstatt sie platt abzuwehren, denn jede Energie, die ich in die Abwehr unliebsamer Wahrnehmungen und Gefühle investiere, steht mir nicht mehr für die konstruktive Bewältigung von Veränderungen in meiner Umwelt zur Verfügung.

 

Je mehr wir uns in diesem Sinne entwickeln, desto mehr können wir mit Vertrauen in unsere Fähigkeiten und ins Leben äusserem Wandel begegnen. Entwicklung bedeutet auch immer die erfolgreiche Bewältigung von Herausforderungen. Welche die wesentlichen für die Reifung unserer Persönlichkeit sind, habe ich in meinem kürzlich erschienenen Buch "ein unvermeidliches Geschenk" in Form einer märchenhaften Geschichte beschrieben. Der Held der Geschichte " ein König - wird mit Ereignissen konfrontiert, die ihn immer wieder aufs Neue herausfordern und in Frage stellen, aber gerade dadurch auch zunehmend zu ihm selbst und ins Leben führen. Ich habe das Buch meiner Tochter gewidmet, die inzwischen etwas älter ist als ich damals war, als sie zur Welt kam.


Ingo Heyn
September, 2006  

Die Website zum Buch: www.ein-unvermeidliches-geschenk.de
 

Persönlichkeitsentwicklung ist ohne eine Entwicklung des Wertempfindens nicht denkbar. Siehe mehr hierzu: Warum Nacktschnecken so selten nach dem Sinn des Lebens fragen 

Literatur 
 

  • Iain McGilchrist, The Master and his Emissary, The Divided Brain and the Making of the Western World. Yale University Press 2009
  • Kuhl, Julius: Spirituelle Intelligenz. Glaube zwischen Ich und Selbst. Herder Verlag. 2. Auflage, 2015.
  • Längle, A; Bürgi, D.: Existentielles Coaching. Theoretische Orientierung, Grundlagen und Praxis für Coaching, Organisationsberatung und Supervision. Wien, 2014.
  • Martens, J.; Kuhl J.: Die Kunst der Selbstmotivierung, 5. Überarbeitete Auflage, Kohlhammer, 2013


Weblinks